Der Marian hat das Sportlerheim in Gräfinau-Angstedt übernommen. Am 11. April ist Eröffnung. Und bei der Brainstormingbesprechung mit den Eingeborenen ist als Empfehlung fürs Kulturprogramm der Name Crayfish gefallen. Früher waren wir öfter hier, gebucht vom Raik, der aber dem bekloppten Deutschland den Rücken gekehrt hat, und jetzt in Südamerika am Strand liegt, mit einem eiskalten Getränk in seiner Hand.
Lange ist es her, und wir freuen uns auf Gräfinau-Angstedt. Die Band ist besser eingespielt als je zuvor, und es sitzt ein Programm von 58 Songs. Zeit, die alten „Wunschkonzert“-Zettel wieder auszupacken.
Aber zunächst muss aufgeladen werden. In unserem Lagerraum steht teilweise Zeug von zwei Bands. Und wir haben das lange nicht gemacht. Aber das kann eigentlich keine Entschuldigung sein. Nein Jochen, die leere Keyboard-Kiste kannst du wieder abladen und zurücktun. Die brauchen wir heute nicht. Er meint’s ja gut. Aber – Hmpf.
Es startet Jochens PKW, dann startet der beladene Transporter. Schon beim ersten Gang beginnen die Witze, wann wir wohl mit 80 kmh Jochen überholen werden. An der Autobahnauffahrt in Jena haben wir ihn das erste Mal. Und am Veranstaltungsort sind wir sogar ne Viertelstunde früher da, trotz eindeutiger Benachteiligung (Überladener T4 mit kompletter Anlage, 3 Musikern und 6 Bierflaschen gegen PKW mit 2 Personen plus 2 größeren Zupfgeigen). Aber zurück zur Realität und zum Beginn. Das ist kein Rennen, sondern alles nur Spiel.
Wir fahren gerade los. Es wird wieder versucht, eisern das Ritual einzuhalten – vor Überquerung einer Brücke wird das erste Bier nicht geöffnet (Abgesehen vom Fahrer selbstverständlich. Aber nicht der Fahrer wird nicht geöffnet, sondern der Fahrer öffnet als Einziger kein Bier.) Der F verpasst die erste Brücke und will anständig die zweite einhalten, während Robin schon säuft. Ein kleines Schnippchen schlage ich ihm, indem ich vor der zweiten Brücke rechts einparke und so tue, als ob ich jetzt gar nicht über die Brücke fahren möchte. Und da bleiben. Hihihi. Versteht ihr? Als ob ich gar nicht über die Brücke will! Hihihi. Haha. Hu. Naja. Aber irgendwann müssen wir doch weiter, ich überquere und der F kommt zu seinem Bier.
Marian, der stolze neue Wirt, begrüßt uns herzlich und hat für jeden eine Dose besonderen Biers aus Österreich zur Begrüßung bereitstehen. Und dann weißt er uns ein. Ich bin immer so unsicher mit der neuen Rechtschreibung. Wahrscheinlich war das jetzt grade richtig geschrieben für einen Malerbetrieb. Oder nicht? Jedenfalls meine ich nicht das mit der Farbe, sondern er zeigt uns wo wir spielen sollen.
Klein. Niedrig. Naja macht nüscht. Wir sind schließlich Künstler. Improvisationskünstler. Man stelle sich ein Sportlerheim vor wie man es sich vorstellt. Mit mehreren kleineren Räumen, 2,0 m hohen Decken und Fliesenfußboden. Wir bauen in einer Ecke auf, um mit der Raumdiagonale einen möglichst großen Publikumsbereich zu haben. In diesem Raum ist es damit 50/50 Band/Publikum. Aber das ist ok, das kennen wir von Kneipenfestivals, und das sind die besten Partys. Zumal hier noch Räume angrenzen und Außenflächen Sitz- und Saufplätze bieten. Es sind dann auch später tatsächlich XxspfmXs Gäste da (exakte Zahlen sollen Finanzamt und GEMA bitte beim Veranstalter erfragen. Wir wissen es nicht.)
Schwierig wird es beim Ton in solch einem kleinen Raum. Gitarren-Verstärker so leise es nur irgend geht, Schlagzeug-Becken mit spezielen Dämpfungs-Pads unterlegt und – ja was mit der Snare. Ein Test mit einem T-Shirt aus unserem Verkaufsfundus bringt die Lösung. Wenn man das über das Schlagfell legt, wird sie leise genug. Allerdings ist es schade, 4 Stunden auf ein nagelneues T-Shirt einzuschlagen bis es Schrott ist. Verschiedene Experimente ergeben ein zufriedenstellendes Resultat mit einem aufgeklebten Aufwaschlappen. Patent Thomas Fischer und Robin Block.
Mit unserer ziemlich tollen Anlage und vielen Anpassungen entsteht fast ein Stadion-Rocksound in einem winzigen Raum. Selbst Überkritiker wie ein F nicken noch 36 Stunden später anerkennend.
Es ist 21 Uhr und Marian möchte, dass wir anfangen. Dann los, und durch drei Runden. 01:30 ist Sperrstunde. Letztendlich spielen wir von 21:15 bis 01:30 und machen dabei zwei kurze Pausen. Es werden viele unserer Wunschzettel vom Publikum zurückgereicht, was die Sache für uns und die Anwesenden interessant macht. Wir erfüllen fast alle Ankreuz-Wünsche. Riesenspaß machen drei Songs vom neuen Album – Play Ball, Rock or Bust und – my very favourite – Dogs of War. Die alten Herren können es immer noch. Nicht wir mein ich, sondern die Originalvorlage! Die neuen Songs werden aufgesogen und gefeiert. Am Schluss müssen wir wieder Etliches weglassen, weil wir uns schon wieder zu viel vorgenommen haben und die Sperrstund einhalten müssen. Trotzdem Grande Finale de Kikeriki mit Let There Be Rock.
Wir packen den Kram zusammen – noch ganz benommen – ich hol den Transporter ran, die Schönes fahren schonmal heim, Jochen muss früh wieder arbeiten. Bwrlbwrlbwrl (wie schreibt man das Geräusch auf, wenn man die Lippen gaaaanz entspannt lässt, den Kopf schnell hin und her schüttelt und dabei stimmhaft ausatmet?).
Marian bringt einen Kasten Bier und einen Teller Fischbrötchen. Der Bund der Verbliebenen fällt in die Sessel und wertet den Abend aus. Angenehmes und Schönes:
• Endlich mal wieder in Gräfinau, die Leute haben uns noch NICHT vergessen – im Gegenteil
• Köstritzer Bier vom Fass
Ärgerliches und Anstrengendes:
• Unstimmigkeiten unter den Mitarbeitern, die aber am nächsten Tag behoben werden
• Fischbrötchen (selbstverständlich nicht anstrengend für UNS).
Es ist schön, wenn man hinterher noch in Ruhe runterkommen kann. Adrenalin raus, Bier rein. Marian plant Sonntag einen Frühschoppen, der schon 10 Uhr starten soll. Dann muss also unser Kram weg sein und das Gasthaus wieder gesellschaftsfähig. Dabei ist es jetzt schon so gegen vier. Ächz. Wir überlegen, trotzdem die ganzen Kisten im Gebäude zu lassen, weil sie da wenigstens abgeschlossen stehen. Und wollen lieber früh pünktlich beginnen. Hüstel.
Irgendwann wird auch der Letzte müde und die Betten müssen ausgewürfelt werden. Hier fällt heute mal der Mantel des Schweigens übers Tagebuch…
08:00 Uhr in der Früh
Die Sonne kitzelt mir ganz klassisch die Nase, weil ich die Vorhänge und das Fenster zur Welt vorsorglich geöffnet hatte. Der F wirft mir später senile Bettflucht vor. Es eröffnet sich der Blick auf eine idyllische Frühlingswiese im Sonnenschein, mit einem glitzernden Bach. DAS IST KEIN BACH werde ich später vollgepflaumt DAS IST DIE ILM! Oha. Hier eher noch ein Ilmchen. Aber zunächst bin ich noch der einzige Überlebende hier. Bei der Durchquerung des Gebäudes über die alten Holzvernagelungen bin ich bei jedem Schritt umgeben von Knarzgeräuschen, die jeden Horrorfilm erblassen lassen. Nicht umgeben bin ich von Menschen. Nichtmal von welchen, die vom Knarzen aus dem Bett schrecken. Im Untergeschoss das Gleiche. Keine Menschen, aber Knarzgeräusche. Jedoch hier kommen die Knarzgeräusche von dem eingetrockneten Bierfilm auf dem Linoleum. Der Boden will einen bei jedem Schritt behalten.
Unser Kram ist noch da. Nur jetzt scheint die Sonne drauf. Der Transporter steht auch noch vorm Objekt und ist noch auf und immer noch leer. Soll ich nu den ganzen Kram alleine aufladen, damit hier 10 Uhr alles fein ist? Irgendwie fehlt mir da der Schneid.
Am Transporter begegne ich einem alten Mann. Er schimpft die ganze Zeit vor sich hin und sammelt Plastebecher auf. Er fragt mich, ob ich etwa das Tor geöffnet hätte. Ich sage ungefähr grmblfx. Aber er hört sowieso nicht zu und proklamiert sinngemäß, er werde das alles in seinen Bericht schreiben, und wenn er dann den Bericht fertig hätte, dann wäre das die erste und letzte Party hier und überhaupt. Das ginge ja gar nicht wie das hier aussieht. Das ist ja wohl laberrhabarberlaberlaber…
Der arme Berichter. Jedoch – an Verwüstung habe ich höchstens 15 Plastebecher auf dem Boden gesehen. Keine Kotze, keine gebrauchten Kondome, keine Toten, keine rituell geopferten Ziegen, keine nicht abgerissenen Eintrittskarten oder Ähnliches. Wie kann man nur so verbittert sein.
Naja, ich begegne noch dem Koch, der fröhlich pfeifend seine Frühschicht beginnt, hau mich aber wieder ins Bett.
09:00 Uhr in der Früh
Marian steht tatsächlich frischgemut auf – Respekt – und beginnt nahtlos den nächsten Arbeitstag. Ich werde auch gleich eingeteilt und baue die Beschallung für den Frühschoppen auf. Zunächst hat er noch über den Laptop die Broilers laufen und meine Laune steigt auf 100%. So macht Frühschoppen Aufbaun Spaß. Sonne, Broilers, ein warmes viertel Restbier vom Vorabend. Ich gehe ins Obergeschoss, zur Tür, hinter der meine Angehörigen schlafen. Ich lasse zärtlich meine weichen Fingerkuppen über die Tür klopfen. Nichts.
Eins der beiden Wir-sind-hier-sowas-wie-die-guten-Seelen-Mädels (ich hab leider eure Namen vergessen wie konnte das passieren) fegt, das andere putzt die Klos und hat Schluckauf. Ich entferne ihr diesen auf bewährte Art. Auf einer Bikerparty wurde am Lagerfeuer mal auf eine solche meiner Taten laut posaunt, ich hätte heilende Hände, aber das ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden. Es stimmt auch nicht.
Wir wuseln und räumen und ich fange an zu Verladen. Marian spielt Volksmusik. Ich schleiche mich an den Laptop und ändere in Metallica.
Ich gehe ins Obergeschoss, zur Tür, hinter der meine Angehörigen schlafen. Ich lasse energisch meine dürren alten Fingerknochen auf die Tür prallen. Erschrockenes „JAJA“.
Ein wenig später ein frischer Robin, der mir beim Laden des Transporters zur Hand geht. Sehr viel später ein F, der aussieht, wie unter der Tür durchgezogen (bei uns sagt man „wie unnern Dore neingezerrt“). Wir verladen, wir kommen in Schwung, die Sonne steigt, wir verabschieden uns. Der Marian und die Mädels hüpfen doch tatsächlich in bayrische Lederhosen und dergleichen, was teilweise mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist, aber das ist eine andere Geschichte ihr wisst schon…
Jedenfalls klauen wir wie fast immer noch ein paar Flaschen Bier. Ein kurzer Abgleich des Restalkoholspiegels und eine vernünftige Diskussion ergeben, daß der junge Recke Robin uns alte Fregatten F und Meisenmann heimfährt.
Ein Transporter voller Musik rollt in den gleißenden Sonnenaufgang. Am Steuer ein schöner junger Schlagzeugspieler. Daneben zwei verschlissene Musikanten mit jeweils einem Bier in der Hand. Die beiden schauen sich tief in die Augen, lüpfen je eine Augenbraue und nehmen einen tiefen Schluck des warmen Bieres. Schweigen. Der eine sagt – früher sind wir jetzt so zur nächsten Mugge gefahren. Der andere nickt nur stumm. Dabei muss bemerkt werden, daß das eine haltlose Verklärung der Tatsachen ist. Der Vergleich bezieht sich bestenfalls auf eine wenige Tage dauernde Mini-Tour der verblichenen Band Second Floor von Berlin bis Graz (Österreich), ziemlich genau 5 Tage im Leben der beiden Protagonisten. Aber das Schöne am menschlichen Geist ist der Hang zur Bewahrung des Schönen.
Und in Bewahrung des Schönen treffen auch die letzten drei Kämpfer schließlich am Lager ein, räumen den Transporter, und scheiden schließlich in der schönen Frühlingssonne. Die Schönes sind ja schon längst ganz woanders. Aber ich bin irgendwie noch gar nicht auf der Erde angekommen. Was ist denn nun richtig? 9 to 5 living oder Scheißen aufs Establishment? Liegt die Wahrheit dazwischen? Machen wir alles falsch? Mit solchen Gedanken stapfe ich heimwärts. Ich gebe euch Bescheid, wenn ich zu einem Schluss gekommen bin.
P.S.: Am Montag krieg ich Nachmittags noch einen Anruf von Marian, der sich bei mir für die hervorragende Sicherheit auf der Veranstaltung bedankt. Ich freue mich erst über das ungewöhnliche Lob, aber wir stellen dann fest, daß er sich Vormittags bei der Sicherheitsfirma für die schöne Musik bedankt hat. Naja. Bei so vielen Telefonnummern kann das ma passieren.